Für die meisten Menschen ist unbeschwertes Laufen eine Selbstverständlichkeit. Fällt die nächste Bahn aus, läuft man eben die zwei Haltestellen zu Fuß. Aber wie sieht der Alltag für Menschen aus, die mit einer Gehhilfe oder einem Rollstuhl unterwegs sind?
Um das herauszufinden, habe ich am Dienstag, den 17.09. im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche, einen Perspektivwechsel gewagt. Gemeinsam mit dem Inklusionsaktivisten Antonio Florio und seinem Assistenten traf ich mich vor meinem Wahlkreisbüro in Ludwigsburg, um einen Tag lang meinen Alltag als Abgeordnete im Rollstuhl zu erleben. Ich danke an dieser Stelle Antonio Florio für sein Einverständnis, mich bis zum Mittag dieses Tages begleitet zu haben und auch für sein Verständnis und die Geduld, mich weitestgehend Ahnungslose in seine Alltagswelt mitgenommen zu haben. Doch hierzu später noch im Bericht!
Die Herausforderung bestand darin, den gesamten Tag im Rollstuhl zu bestreiten und so die Hürden und Barrieren, die Menschen mit Mobilitätseinschränkungen täglich bewältigen müssen, aus erster Hand kennenzulernen und diese Erlebnisse auch in mein Handlungsfeld, der Verkehrspolitik einfließen zu lassen.
Vorweg kann ich sagen - Barrieren müssen nicht immer physisch sein - Barrieren beginnen im Kopf und Menschen landen dadurch sehr schnell in Schubladen.
Und da nehme ich mich selbst nicht aus - sollte doch der Selbsttest mich erden und sensibilisieren auch in meinem Umfeld achtsamer mit dem Thema Inklusion und Barrierefreiheit umzugehen.
Aber starten wir am Morgen des gestrigen Dienstags.
Wir sind in der Lindenstraße Richtung Bahnhof losgerollt, schließlich war es das Ziel, nach Stuttgart zu fahren.
Hierbei hat mich Antonio Florio gebeten eine Maske zu tragen. Auf meine Rückfrage hin, prophezeite er mir schon: "Es ist ein Test - die Auflösung kommt später." Also ging es mit Maske, Rollstuhl und einer eigenen Hilfsperson an den Start, über die unterschiedlichsten Beläge am Arsenalplatz durch die Myliusstraße zum Osteingang des Bahnhofs. Zu den Wegbelägen und Unebenheiten kann man sagen, das ist noch das geringste Problem im Alltag mit Rolli. Irgendwie bekommt man es schon hin, so lange man eine Begleitung hat ... aber das ist natürlich auch nicht selbstverständlich und bringt einen schon auch in eine gewisse Abhängigkeit und weg von der Selbstbestimmung, die wir Menschen gerne leben wollen.
Am Bahnhof ging es gleich in das Bahnhofsgebäude, wo uns die erste große Hürde des Tages erwartete. Der Aufzug im Bahnhof, um in die Unterführung zu kommen, war außer Betrieb. Er scheint es wohl auch schon länger zu sein - schließlich klebt ein professioneller Aufkleber im DB-Design mit dem Wort "Defekt" auf der Schiebetür. (Diese Professionalisierung im Design lässt einen vermuten, dass Ludwigsburg im Konzern kein Einzelfall darstellt. Diese Tatsache empfinde ich allerdings im Bereich Inklusion alles andere als professionell und ermutigend - sondern vielmehr traurig und verstörend) Eine Passantin mit Rollator klärte uns auch auf, dass dies auch schon länger der Fall sei. Sie wollte auch zu den Gleisen und brauchte Unterstützung bei den Treppen.
In solch einem Moment denkt man sofort - was könnte der Plan B jetzt sein. Plan B lautete: Es gibt eine Rampenführung an der rechten Seite der Treppe zur Unterführung. Aber diese Rampe ist viel zu steil für Rollis. Und was ist die Alternative? Der Aufzug am Franck-Steg! Allerdings nur um zu Gleis 2/3 zu kommen. Auf Gleis 4/5 kommt man von dort aus nicht. Das erleichtert jetzt keine Fahrt mit einem Regionalzug nach Tübingen oder dergleichen.
Doch wir wollten sowieso zur S-Bahn, also galt es - ab zum Franck-Steg rollen. Den Weg über den Busbahnhof zu passieren, war bei der großen Frequenz an mobilen Menschen gleichzusetzen mit einer Slalomfahrt. (Wer es mag, kann das genießen, aber ich kann mir vorstellen, dass es im Alltag nicht jedermanns Geschmack ist und für Menschen die einen Begleiten und auch schieben eine große Herausforderung.) Am Franck-Steg begrüßte uns rot-weißes Absperrband und ein großes Schild, der Aufzug sei wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb. Gibt man in so einem Moment auf. Nicht Ortskundige, würde ich jetzt behaupten, würden resignieren. Denn auch hier wieder, wie am ersten Aufzug, kein Hinweis auf eine alternative Wegeführung für Rollstuhlfahrer*innen. Wir wissen natürlich, dass der Ludwigsburger Bahnhof über die Unterführung einen ebenerdigen Westeingang hat. Jedoch ist es sehr umständlich von der einen Seite zur anderen Seite zu kommen. Die Mühe, durch den Schillerdurchlass dort hinzufahren wurde doch immerhin damit belohnt auf einen Fahrstuhl zum Gleis 2/3 zu treffen, der uns wohlbehalten nach oben beförderte - ratenweise. Insgesamt hat uns der Weg am Bahnhof selbst 40 Minuten gekostet. 40 Minuten Lebenszeit, Hirnschmalz und Energie sowie Geduld. Das verlangen wir von Menschen, die sowieso mit ihren Kräften meist haushalten müssen. Schade!
Mit der S-Bahn hat dann alles geklappt und auch in Stuttgart haben wir uns zurechtgefunden. Hier funktionierten alle Aufzüge etc. Im Landtag selbst klappt es auch mit den Wegen - allerdings kann man auch hier in Sachen Wegeführung noch mit Piktogrammen nachhelfen. Schwierig ist es eher, einen Toilettengang in den Sitzungsmarathon einer Abgeordneten mit einzubauen, konnte ich feststellen. Doch das Haus der Abgeordneten soll ja renoviert werden und hierbei auch in Sachen Barrierefreiheit nachgebessert werden.
Schön war, dass wir gestern auch im Rahmen meiner Termine die Landesbehindertenbeauftragte Simone Fischer treffen konnten, um uns mit ihr und meinem Landtagskollegen Michael Joukov auszutauschen zu können. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die Möglichkeit. Ich ziehe hieraus auch viele Aufgaben für meine politische Arbeit.
Jetzt möchte ich noch das Rätsel um die Maske lüften. Viele Menschen mit Behinderungen, die sich anders bewegen oder nicht deutlich sprechen können und eine Assistenz oder Begleitung bei sich haben werden oftmals nicht direkt angesprochen. Das ist sehr schade! Denn jeder Mensch, ob im Rolli oder mit dem Rollator, verdient die direkte Wahrnehmung und Ansprache. Das war der Versuch mit der Maske, herauszubekommen, wie mit mir im Austausch umgegangen wird - welcher Eindruck vermittelt wird.
Ich habe für mich gestern viel gelernt - gelernt über unsere Gesellschaft - gelernt zu dem Thema Respekt und Teilhabe - gelernt zu Vorurteilen und Framing. Denn im Austausch hat mir Antonio Florio klar vermittelt: "Bitte nicht um Hilfe, wenn du in einer verfahrenen Situation bist. Frag auch nicht, brauchen sie Hilfe, sondern frage, brauchen sie Unterstützung. Hilfe heißt, Du bist hilflos. Bitte um Unterstützung! Das stimmt - Unterstützung zu erbitten zeigt deutlich auf, dass man selbstbestimmt ist und nicht hilflos ist.
Für mich ist klar, Menschen, die mit einem Rollstuhl unterwegs sind oder eine Gehhilfe benötigen, müssen selbstbewusst durch ihr Leben rollen. Man muss bereit sein, Menschen um Auskunft zu bitten, um Unterstützung bitten und da darf man auch keine Scham haben. Sonst erreicht man - ob im Verkehr oder auch so - nichts.
Danke nochmals Antonio für Deine Unterstützung und das Augenöffnen. Du hast mir gestern nicht nur Deine Zeit geschenkt, sondern auch Wissen vermittelt, dass für mich und meine Arbeit sehr wertvoll ist. Herzlichen DANK!
Ich stehe gerne wieder für einen Selbstversuch zur Verfügung!