es gibt Momente, da spürt man: Etwas kippt. Nicht laut, nicht mit einem großen Knall – sondern mit einem Satz. Friedrich Merz hat gesagt:
„Aber wir haben natürlich im Stadtbild noch dieses Problem –und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, Rückführungen zu ermöglichen.“
Ich weiß nicht, wie es euch ging, aber mich hat das getroffen. Weil in diesem einen Satz so viel Verachtung steckt – verpackt in Verwaltungssprache. „Im Stadtbild“ –was heißt das bitte? Da geht’s nicht um Politik, da geht’s um Menschen. Und plötzlich werden Menschen zu einem „Problem“. Zu etwas, das man am liebsten nicht sehen will.
Das ist der Moment, wo Sprache gefährlich wird. Weil sie vorgibt, sachlich zu sein – und doch ganze Gruppen entmenschlicht. Weil sie nach Ordnung klingt, aber Ausgrenzung meint.
Jeder Mensch ist anders. Jeder trägt seine Geschichte, seine Brüche, seine Herkunft, seine Sehnsucht in sich. Das, was man sieht, ist nie das Ganze. Ich denke an das Kinderbuch „Irgendwie anders“. An dieses kleine, einsame Wesen, das anders aussieht, anders redet, anders isst. Und das irgendwann aufgibt, dazuzugehören – bis eines Tages jemand kommt, der selbst irgendwie anders ist, und sagt: „Du bist nicht wie ich – aber du bist trotzdem mein Freund.“ Das ist der Moment, in dem das Buch leuchtet. Und das ist genau der Moment, an dem Politik entweder Größe zeigt – oder Herzlosigkeit. Denn wenn wir Menschen nur dann akzeptieren, wenn sie uns gleichen, dann haben wir nicht verstanden, was Menschlichkeit bedeutet. Vielfalt ist kein Risiko. Vielfalt ist Reichtum. Sie zwingt uns, wach zu bleiben, zu lernen, uns zu bewegen – und das ist die Grundlage jeder lebendigen Demokratie.
Diese Wortwahl von Merz ist kein Ausrutscher. Sie ist eine Grenzverschiebung – rhetorisch sauber, moralisch schmutzig und, das Fiese daran: strategisch geplant. Sie soll markieren, wer dazugehört – und wer nicht. Sie steht für ein Denken, das wir als Demokratinnen und Demokraten seit unserer dunkelsten Zeit bekämpfen: das Denken, das Vielfalt als Belastung sieht, das Denken, das Menschen auf Äußerlichkeiten reduziert, das Denken, das Angst sät, um Macht zu ernten. Merz spricht von einem „Problem im Stadtbild“. Ich sage: Das einzige Problem im Stadtbild sind Politiker, die meinen, Menschen seien Makel, die man wegretuschieren kann.
Ich sehe in Unterschiedlichkeit keinen Defekt, sondern die Voraussetzung für Gerechtigkeit. Gesellschaft funktioniert nicht trotz Vielfalt – sondern durch sie. Herkunft, Religion oder Hautfarbe dürfen keine Eintrittskarten in die Zugehörigkeit sein. Wir brauchen Städte, die offen sind, lebendig, solidarisch. Wo Kinder mit und ohne Migrationsgeschichte nebeneinander aufwachsen, wo Kultur, Sprache, Religion sich begegnen, reiben, bereichern. Das ist das Stadtbild, das wir wollen. Das ist das Stadtbild, das Demokratie atmet. Und wenn Herr Merz das als Problem sieht, dann sollten wir uns fragen, was für eine Republik er eigentlich wiederherstellen will.
Die Partei, die sich „christlich“ nennt, spricht heute von Rückführungen, wenn sie eigentlich Entfernung meint. Von Ordnung, wenn sie Kontrolle meint. Von Stadtbild, wenn sie Menschen meint. Das C steht längst nicht mehr für „Christlich“. Es steht für Zynismus –für den bequemen Selbstbetrug einer Partei, die ihren moralischen Kompass verloren hat, aber noch immer glaubt, sie könne die Richtung vorgeben.
Dabei steht unser Kompass längst geschrieben – schwarz auf weiß im Grundgesetz. Gleich in Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Da steht nicht: die Würde des Deutschen. Da steht: die Würde des Menschen. Das ist das Fundament, das uns trägt. Es ist die Linie, die wir nie überschreiten dürfen. Und wer heute beginnt, Menschen nach ihrem Beitrag zum „Stadtbild“ zu sortieren, der entfernt sich von diesem Grundgesetz Schritt für Schritt –und läuft in eine Richtung, die wir aus der Geschichte nur zu gut kennen: nach rechts außen.
Integration braucht Regeln, Sprache, Bildung, Verantwortung – ja. Aber sie beginnt immer mit Respekt. Denn wer Menschen von Anfang an nur als Risiko betrachtet, wird nie ihr Potenzial erkennen. Wir reden nicht von Stadtbildern. Wir reden von Nachbarschaften. Von Chancen. Von Kindern, die gemeinsam lernen, egal, welche Sprache sie zuerst gesprochen haben. Von Frauen, die hier Schutz finden. Von Männern, die hier arbeiten, Steuern zahlen, Familien gründen. Von Menschen, die dieses Land längst mitgestalten. Das ist der Unterschied. Wir wollen Zugehörigkeit – nicht Zensur.
Herr Merz, wenn Sie wirklich ein Problem im Stadtbild sehen, dann schauen Sie nicht auf die Menschen. Schauen Sie in den Spiegel. Denn dort sehen Sie, wie klein Politik werden kann, wenn sie Moral gegen Meinung tauscht. Unser Stadtbild ist keine Gefahr. Unser Stadtbild ist gelebte Demokratie. Es ist laut, vielfältig, unordentlich – und schön, gerade weil es echt ist. Und wenn Sie das als „Problem“ empfinden, dann ist das Ihr Problem – nicht unseres.
Deutschland ist stärker, wenn es offen ist. Menschlicher, wenn es solidarisch ist. Größer, wenn es Herz zeigt. Das ist das Stadtbild, das diesem Land gutsteht – und das ist die Haltung, die wir verteidigen müssen.
Eure Silke Gericke